Christian Weigel: Rollo – Teil 4

„Äh… ich weiss nicht…“ stammelt unser Roland, und, mal Hand auf’s Herz, hätten wir nicht auch gezögert – egal wie geil die Damen auch immer gewesen wären? Roland steht da, in der kleinen Bucht, in seiner blau-gelben Wassershort, und Schwimmringen um seine Hüfte, natürlichen Schwimmringen, vesteht sich. Dann läßt er sich doch breitschlagen, wie Edmund Stoiber, aber das hatten wir ja schon. Er bittet die Nixen:
„Könnet ihr euch nicht umdrehen?“ Scheu ist er eben, und doch läßt er die Short herab, nicht sportlich, nicht sexy, einfach herab, langsam, zuerst kommt die speckige Kimme zum Vorschein, und es ekelt uns alle an. Aber Mitleid erfüllt uns. Die Damen wenden sich ab, ihre Träger sind auch schon zur Hälfte die Schultern herabgefallen, und übrig bleibt nur eine weisse Spur Blässe – hier war einst ein Träger.
„Okay, mach nur weiter.“ spricht Sandy, und Tanja heuchelt:
„Wir ziehen uns inzwischen hinter den Büschen aus.“ Diese Tanja ist eine Schlange. Damit ihn die Mädchen nicht nackt sehen, springt Rollo schnell ins kalte Nass. Bauch voraus, nicht spektakulär oder sonstwie sportlich. Der Weltwasserspiegel steigt weltweit um ein paar Millimeter und Städte wie Los Angeles oder Madrid versinken im Wasser, Tokio wird von einer Flutwelle bedroht. Holland? Das gibt es nicht mehr. Als Roland weg ist, er schwimmt so dahin, was soll man auch anderes machen… als er also weg ist, kommen die Mädchen kichernd hinter den Büschen hervor. Die Bikini-Träger sind wieder auf die Schultern gerutscht, war also eine Finte. Tanja sieht die Sachlage so:
„Hat doch prima geklappt. Und die Badehose nehmen wir auch mit.“
Sandra: „Jetzt aber nichts wie weg!“ Lachend sitzt der Dritte im Gebüsch: Sascha und beobachtet die Szene aus dem sicheren Versteck.
„Ha, die Mädels sind echt hammerhart!“ Kaum zu fassen. Gerissen sind diese Dinger. Als Roland nach einer Weile an die Küste zurückschwimmt, ist er überrascht, weil er die Mädchen nicht sieht, nicht nackt und auch nicht bekleidet. Nackt, das wäre ihm und seinem weissen Arsch wohl lieber gewesen, aber so hat’s nicht sollen sein, lieber Roland.
„Sandy? Tanja? Wo seid ihr denn?“ So seine Originalworte. Der nackte Dicke ist verzweifelt, als er merkt, dass die Mädels weg sind.
„Neeeeeiiiiiiiin! Ihr könnt mich doch hier nicht einfach allein lassen – nackt!!!“ Wie ein Brüllaffe klatscht er mit seinen Patschhänden auf die Wasseroberfläche ein, kneift seine enttäuschten Äuglein zusammen. Kann jemand wie Roland sauer werden? Dann müsste er es jetzt sein.

In der Zwischenzeit sind die drei ??? in der Gartenlaube angekommen und lachen sich schlapp. Tanja:
„War Sandys Idee nicht spitze?“ Sascha völlig ausgelassen und happy:
„Absolut! Nur schade, daß wir Rollos Gesicht nicht sehen konnten, als er aus dem Wasser kam.“ Sandy zuguterletzt:
„Hauptsache, wir sind ihn los!“ Beide Mädels tatschen ihrem Hero auf die Schulter, körperlich ist er momentan Tanja näher, aber schauen tut er zu der anderen. Tanja strahlt Sascha an:
„Nach der Nummer hat Rollo bestimmt genug. Jetzt können wir zu deinem Inline-Contest kommen.“ Sascha vergewissert sich, dass Sandra auch kommt.
„Der Contest startet um drei! Ich brauch‘ dich als meinen Glücksbringer.“
„Klar, bin ich dabei. Ich lasse es mir doch nicht entgehen, wenn sich der Skate-King seine Krone schnappt.“ Wenig später verabschieden sich die Mädchen.
„Ich muss los, du kennst ja meinen Vater!“ meinte Sandra und hängt locker die Badetasche über ihre Schulter. Tanja:
„Sorry, ich kann auch nicht bleiben, aber wir sehen uns ja morgen.“ Und Sascha:
„Ich verlass mich auf euch!“

Zur gleichen Zeit – aber an einem anderen Ort, den wir bereits sehr gut kennen. Da klingelt es an einer Tür, an der von Sandys Eltern. Die Mutter öffnet die Tür und ist ent-setzt! Der Nachhilfelehrer… aber wie sieht er aus? Hildegard Schlangenhaut:
„Um Gottes willen, wie sehen Sie denn aus?“ Soll sie lachen oder schreien? Was da vor ihr steht ist krebsrot angelaufen und nur mit einer schlaffen Luftmatratze um die Lenden geschnürt, steht Roland vor der Türe:
„Äh… ich muss mich entschuldigen, Frau Lauer. Aber mir ist schon wieder ein dummes Mißgeschick passiert!“ spricht die Wurst und macht einen krebsroten Knicks. Da sie nunmal aus ihrer Mutterhaut nicht herauskann, versorgt sie Rollos Sonnenbrand, indem sie ihn eincremt. Der fette Hermes hat es sich dazu auf der Terrasse bequem gemacht auf einem der Liegestühle, mit x-Beinen, nach vorn gebeugt sitzt er da und seine Brüste werfen dicke Falten über weitere und weitere Falten. Wie einer dieser Hunde.
Da, plötzlich steht die zickige Tochter in der TerracottaTerrassenTür und wird gleich zur Rede gestellt:
„Was hast Du mit Roland gemacht? Ich will eine Erklärung, und zwar sofort!“ (Rollo nur kurz dazwischen: „Hallo Sandy!“ – Er scheint ihr nicht böse zu sein.) Die Tochter plädiert für Freispruch:
„Ich weiss auch nicht, aber Roland war auf einmal weg. Tanja und ich dachten, er sei schon gegangen. Und dann haben wir uns auch auf den Weg gemacht.“ Sie spielt die perfekte Unschuldige.
„Oh Gott, Roland, jetzt fällt mir ein – ich hatte ja deine Klamotten in meiner Tasche.“ Aber so arg ist es ihr gar nicht, ein bisschen grinsen muss sie dabei schon… Wir halten es nicht für möglich – aber dieser Roland hat ein solch dickes Fell. Ahnt mal das: Er ergreift auch noch Partei für sein Böckchen:
„Sehen Sie, Frau Lauer, ich hatte recht. Sandy würde mich doch nie nackt irgendwo aussetzen.“ Und die Frau Mamma kann nicht anders als bekennen:
„Sie sind wirklich ein lieber Junge, Roland.“ Um Roland völlig zu besänftigen, kniet sich Sandra zu ihrem Ekeldoktermathe hin und entschuldigt sich nochmal ganz lieb.
„Es tut mir wirklich sehr leid, Roland. Vielen Dank, dass du mir nicht böse bist, aber es war wirklich keine Absicht.“ Entwaffnend, diese Masche. Maschematik.
Und Roland zu ihr: „Das weiß ich doch, Sandy. Mir passieren laufend so blöden Sachen. Ich bin eben ein richtiger schusseliger Professor.“ Die Mama Lauer dreht der Zehnerie den Rücken zu mit cremeverklebten Fingern, ihre Arbeit ist getan.
Und der Tag endet irgendwie – wir wissen nicht genau wie. Aber wahrscheinlich wird zu abend gegessen. Der Vater glotzt, die Mutter telefoniert mit einer Freundin aus der Feng-Shui-Gruppe über ganz und gar nicht Feng-Shui-mässige Themen, der kleine Bruder von Sandra, den wir noch nicht gesehen haben, spielt mit seinem Sega-Scheiss und hört dabei Rap oder New Metal, Sandra feilt ihre Fussnägel und läuft entnervt zu ihrem Bruder rein und schreit: Mach leiser den Scheiss! Dann schmeisst sie sich nach getaner Arbeit auf ihr Bette und schreibt eine SMS an Tanja, sie findet den „Sash“ voll zum knuddeln, ob der wohl schon mal ne Freundin hatte, krasse Vorstellung, dass sich der Lutschkopf von Roland da unten noch einen runterholt im Gästezimmer, dass das andersmadige Ferien werden dieses Jahr mit vollgeschrödert werden von Dr. Mathe, und wie Vaddern gedampft hat, zu sehr!

Ein nasser Teenagetraum und dann schon der nächste Tag. Sandys Vater ist ganz überrascht, dass seine Tochter schon mit Roland bei der Nachhilfe sitzt.
„Freut mich, dass du so fleissig bist, Sandy. Es macht dir wohl Spass, mit einem Genie wie unserem Roland zu lernen?“ Und legt liebevoll die väterliche Pranke in Sandras Genick.
„Ja Vati“, erwidert diese gehorsam, „aber bitte stör uns jetzt nicht länger.“ (Heute trägt unsere süße kleine Schülerin ein enganliegendes rosafarbenes Hemd und einen rosa Mini mit Blumenaufdruck.) Roland sagt zu Herr Lauerbauer:
„Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Lauer, wir werden Sandys kleine mathematische Schwächen schon ausbügeln.“ Es ist friedlich bei Lauers. Wide und bright kein Schimmer von Krieg in Afghanistan oder sonstwas. Achso, es war ja erst 1998. Aber in Afghanistan waren da auch schon Minen vergraben. Nachdem sie eine Weile mit Roland gepaukt hat, ist Sandy am Verzweifeln. Schon wieder? Kaum zu fassen. Die Konzentrationsfähigkeit hat extrem abgenommen! Machen das die schnellen Schnitte in ViVA und MTV? So protestiert die Geschundene:
„Was? Diese Aufgabe auch noch? Roland, das schaff‘ ich heute nicht mehr.“ Roland biegt sein Ohrläpplein zurecht:
„Wie bitte? Ich glaube, ich habe mich verhört. ‚Das schaff‘ ich nicht‘ existiert nicht in meinem Wortschatz.“ Zwischen seinen speckigen Fingerchen klemmt ein kluger Kugelschreiber. Warum einen kaufen, wenn man sie als Werbegeschenk hinterhergeworfen bekommt? Logisches Denken durchdringt einen Mann, der dem Michelinmännchen Konkurrenz macht. Zum tausendsten Mal: Ja, er ist dick! Das hast Du uns jetzt klar gemacht, Autor! Da Sandy unbedingt zu dem Inline-Contest will, verlegt sie sich aufs Betteln.
„Bitte, bitte, Roland. Machen wir Schluss für heute. Wir haben doch noch die ganzen Ferien Zeit zum Büffeln.“ Schon wieder ist das Fleischstück breitgeklopft und kann gebraten werden:
„Na ja… wenn du meinst.“ Roland läßt sich von Sandy wieder um den Finger wickeln.
„Das ist süß von Dir. Ich hab nämlich was ganz Dringendes zu erledigen.“
„Hoho“, muss Roland lachen, „willst Du wieder kleine Jungs zum Nacktbaden verführen?“ Dabei sieht er wirklich süß aus, wiegt den schweren, klugen Kopf hin und her, findet sich selbst ein bißchen komisch. Nachdem ihm Sandy von dem Event erzählt hat, und das hätte sie nun wirklich nicht tun sollen, läßt sich Rollo nicht mehr abwimmeln, die weissen Söckchen, die in den Birkenstocks stecken, folgen ihr durchs ganze Haus.
„Du nimmst mich doch mit… Ich bring nur schnell die Bücher hoch.“ sagt der Arme. Und was denkt sich die hübsche Sandy?
„Au weia, da muss ich mir aber noch was einfallen lassen…“ Sie grübelt bereits und hat nachdenklich ihre Faust an ihr Kinn gelegt. Mißtrauisch sieht sie zurück über ihre Schulter und hört die Worte von dem Dicken, der ihr so ganz und gar nicht symphatisch ist. Wenig später steigen Sandy und Roland in den Bus ein, um zum Inline-Contest zu fahren. Bis hier hin ist er noch dabei, aber sie will ihn doch beiseite schaffen!
„Ich glaube, das ist unser Bus.“ sagt Sandy und lacht Roland an. Offen trägt sie die Haare und sieht richtig nett aus. Poland, mit einem Stinkefuss schon im Linienbus, dreht sich nochmal zu seiner ungleichen Begleiterin um:
„Bleib aber dicht hinter mir, damit wir uns nicht wieder verlieren!“ Verlieben, Verlier’n, Vergessen, Verzeih’n, Sich hassen, Verlasen und doch unzertrennlich sein (Münchener Freiheit). Im Bus studiert das blonde Gift die Busroute:
„Hmm, ich finde die Haltestelle hier gar nicht.“ Die fette Qualle hat schon Platz genommen, und das wird ihr gleich zum Verhängnis:
„Tut mir leid, Sandy. Ich kann dir nicht helfen. Ich bin ja fremd in der Stadt.“ Als der Motor des Busses startet, läuft Sandy zur Tür.
„Komm schnell, Roland, wir sind hier falsch.“ ruft sie ihm zu. Roland greift nach der Stange, zieht seine Kilos hoch, und zwängt ein
„Warte auf mich!“ aus sich heraus. Leider muss er drinne bleiben. Sandy springt schnell raus. Als sich Roland durch die Sitzreihen schiebt, schließt sich die Tür. Vielleicht schallt noch eine Ermahnung des Fahrers nach hinten, aber wir können diese nicht mehr hören. Dennoch möglich. Viele, ja die meisten der Busfahrer sind ja gerne zu solchen machohaften Showeinlagen bereit. Haben ja sonst nichts im Leben. Außer ihren goldenen Armkettchen und Zigaretten. Der Bus jedenfalls – er fährt weg, beladen mit einem Plus von mindestens fünfundachtzig Kilo. Sandy von außen:
„Armer Rollo… du tust mir sooo leid!“ Roland von innen, die großporige Nase an die behindertengereche Tür gequetscht und die Speckfinger fassungslos an die Scheibe gedrückt:
„Sandyyyyy!“